Veranstaltung: | Landesparteitag |
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Tagesordnungspunkt: | 1. Wahl der Landesliste zur Bundestagswahl |
Antragsteller*in: | Robert Habeck (KV Flensburg) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 05.03.2021, 17:45 |
LL 2 RH: Robert Habeck
Selbstvorstellung
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
ich erinnere mich noch sehr genau an einen Parteitag 2005
in Neumünster. Es war ein heißer Tag nach einem unglaublich
kalten Wahlkampf, wir waren noch in der rot-grünen
Bundesregierung, aber in Schleswig-Holstein waren wir –
nachdem die die Wahl von Heide Simonis als Ministerpräsidentin
einer Minderheitsregierung mehrfach keine Mehrheit
im Landtag gefunden hat – aus der Regierung geflogen.
Die Stimmung im Landesverband war moll. Wir hatten
Mitglieder verloren und Zustimmung. In Kiel wurde eine
Große Koalition gebildet.
In dieser Situation beschloss der Landesverband Schleswig-
Holstein einen Kurs der Eigenständigkeit. Ich glaube
sogar, dass der Begriff damals erstmals verwendet wurde.
Mit dem Begriff verband sich nicht nur eine neue strategische
Kraft, nämlich nicht mehr von anderen in Bündnisse
eingepreist zu werden, sondern selbst und unabhängig
darüber zu entscheiden, mit wem in welcher Konstellation
am meisten grüne Politik möglich ist, ein erweiterter
Verantwortungsanspruch an uns selbst. Das war uns damals
vielleicht gar nicht klar, aber rückblickend erscheint mir
dieser Moment als der, in dem wir Grünen beschlossen, sich
nicht mehr nur als Vertreterin bestimmter Milieus, von
bestimmten Themen zu sein, die die anderen nicht sehen
wollten, sondern einen Anspruch zu entwickeln, für die
Breite der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
Es gibt Wegmarken auf der weiteren Strecke – ich erinnere
mich, mit welcher Mischung aus Stolz und Leidenschaft, im
Parlament unsere Anliegen zu vertreten, wir 2009 in den
Landtag einzogen, wie wir unseren Teil leisteten, die
verfeindeten Lager zu einem Gespräch einzuladen, an die
Debatten im Plenum und die After-Work-Treffen danach, an
stürmische Debatten über den Begriff Heimat auf einer
Fraktionsklausur in Leck 2010, die Verfassungsklage gegen
das Wahlergebnis von 2009 und die Neuwahl 2012 mit der
Regierungsverantwortung, dass wir mit dem Finanzministerium
und Monika als Ministerin ins Zentrum des Regierungshandelns
vorstießen und ich bis 2018 das Privileg
hatte und Jan es heute hat, mit dem MELUND das Schleswig-
Holstein-Ministerium zu führen, die Entscheidung
2017 eine Jamaika-Koalition zu verhandeln und sich nicht,
wie sonst immer Praxis, von der SPD, die wie selbstverständlich
mit der Union koaliert, in die Opposition drängen
zu lassen, Euer Votum für meine Spitzenkandidatur auf
Bundesebene 2017 – all das, der lange Weg, den wir
zusammen gegangen sind, hat mich jetzt hierher geführt.
Und ich bewerbe mich um den Listenplatz 2, um gemeinsam
mit Euch und aus dem Landesverband heraus das
nächste Kapitel zu schreiben.
Meine Bewerbung um ein parlamentarisches Mandat im
Bundestagt ist, nach den amtslosen Jahren als Parteivorsitzender
und den mandatslosen Jahren als Minister, auch eine
Bewerbung um den Dienst an der Demokratie. Das Parlament
als ihr Spiegel ist das Herz einer offenen Gesellschaft.
Und es ist ein angegriffenes. Es zu achten und zu schützen,
zu stärken und laut schlagen zu lassen, das wäre mir eine
Ehre. Ich will Vertreter der Gesamtinteressen unserer Partei
und unseres Landes sein, denn immer öfter sind in den
letzten Jahren die Positionen unserer Partei im Land mehrheitsfähig
geworden. Ich bringe dafür die Fachlichkeit und
Kompetenz aus den Regierungsjahren mit, die mir ein
profundes Wissen in allen ökologischen Themen – vom
Windkraftausbau und Netzausbau, dem Artenschutz und der
Landwirtschaft, dem Meeresschutz und Küstenschutz und
Rückbau der Atomkraftwerke, dem ländlichen Raum und der
Digitalisierung – gaben und als Bundesvorsitzender den
Überblick über all die Themen, in denen die Partei in den
letzten Jahren weiter politisch gearbeitet hat – Finanzen
und Innen und Gesundheit und Flüchtlinge und Wissenschaft
– mit. Sie möchte ich jetzt im Bundestag stark
machen. Sichtbar machen. Hörbar machen. Mehrheitsfähig
machen – indem wir im Bundestag Mehrheiten schaffen.
Viel zu lange regieren wir schon nicht auf der Bundesebene.
Anderthalb Jahrzehnte wurde immer erst dann agiert, wenn
die Krise so groß war, dass man sie nicht mehr ignorieren
konnte – so die mangelnde Regulierung des Bankensektors
vor der Finanzkrise 2008 und der fehlende Green New Deal
vor der Krise des Euros 2012, das Klammern an das
Dublin-System, das dann 2015 kollabierte. Und bei der
großen globalen Krise unserer Zeit, der der Erderhitzung,
läuft uns die Zeit davon. Nicht ganz richtig wird angesichts
der Erderhitzung von einer Klimakrise gesprochen. Das
Klima ist letztlich, was es ist. Aber eine Welt der Waldbrände
und Wüstenbildung, der Kämpfe um Wasser und
Nahrungsmittel wird zu einer Menschheitskrise führen. Bei
all den Einzelthemen und Auseinandersetzungen, die wir zu
führen haben, geht es darum, ein politisches Verständnis
durchsetzen, das vorausschauend agiert und Krisen nach
Möglichkeit eben gar nicht entstehen lässt.
Corona ist eine Zeitenwende. Es ist klar geworden, dass
Nachhaltigkeit nicht Nachträglichkeit bedeuten kann, dass
eine Politik, die nur die negativen Folgen unserer
Wirtschaftsweise zu reparieren versucht, an ihrem Ende ist,
dass wir stattdessen eine Art „Vorhaltigkeit“ brauchen, die
die ökologischen, sozialen und gesellschaftlichen Folgekosten
gar nicht erst entstehen lässt, sondern verhindert.
Wir haben uns angewöhnt, Nachhaltigkeit mit einer Zeitdimension
in die Zukunft zu versehen. Sie wird mit „enkeltauglich“
gleichgesetzt. Damit, dass man keinen Raubbau
an der Natur vornehmen darf, der zukünftiges Wirtschaften
verhindert. Aber Nachhaltigkeit hat auch schon eine Bedeutung
für die Gegenwart. Dies muss auch die Art der Politik,
selbst verändern: Kooperation statt Konkurrenz, Einvernehmen
statt Überheblichkeit, Probleme lösen, statt sie auszusitzen,
Veränderung als Bedingung für neuen Halt.
Mit der sozialen Marktwirtschaft wurde dem Kapitalismus
nach dem zweiten Weltkrieg eine Entwicklungsrichtung
gegeben, jetzt müssen wir das Wirtschaftsmodell erweitern
zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft, die die
allgemeinen Regeln neu setzt, durch CO2-Bepreisung,
Divestment und Umlenkung der Kapitalanlagen, eine
nachhaltige Globalisierung durch Lieferkettengesetze und
neue Freihandelsverträge, Klimazölle oder Contracts for
Differences verankern, dadurch dass ökologische Schäden –
von der Plastikproduktion über die Agrargelder – nicht
mehr steuerlich begünstigt werden, sondern umgekehrt:
klima- und umweltfreundliches Verhalten.
Wir, die heutige Generation und vor allem wir in den reichen
Ländern der nordwestlichen Hemisphäre, verbrauchen
mehr, als wir haben. Wir leben von geborgter Zeit und
geliehenem Wohlstand. Die ökologischen Kosten unserer
Wirtschaftsweise, des ungezügelten Mehr, sind längst nicht
mehr tragbar. Sie funktioniert nur noch, weil wir uns über
die Konsequenzen selbst täuschen, weil wir verdrängen und
nicht hinsehen. Denn der globale Kreislauf führt dazu, dass
der reiche Nordwesten die Kosten, auf denen sein Wohlstand
basiert, auslagert. Wir importieren Kohle und Öl,
deren Abbau bzw. Förderung in Kolumbien oder Nigeria
schwere ökologische und soziale Schäden anrichten. Wir
nutzen seltene Erden, Lithium, deren Abbau jede Menge
Wasser verbraucht, das dann oft der dortigen Landbevölkerung
fehlt, oder Kobalt, das im Kongo auch durch Kinderarbeit
in engen Gruben gewonnen wird, für Batterien in
unseren Handys oder Elektrofahrzeugen. Und wir schicken
einen Großteil der Wertstoffe als Müll und Abfall wieder in
Staaten wie Malaysia oder Indonesien, wo sie in offenen
Deponien in die Umwelt gelangen.
Die Mehrung von Gewinn und Eigentum durch Wachstum
als Ziel des kapitalistischen Wirtschaftens kann nicht
mehr Selbstzweck sein. Es muss sich anderen Werten
unterordnen, Werten, die die Ausbeutung der einen nicht
zum Nutzen der anderen machen, sondern die die Globalisierung
zu einer globalen Verantwortung machen, bspw.
eine Bundesregierung, die sich in Europa dafür einsetzt,
dass Handelsverträge zukünftig Regeln für eine ökologischere
und soziale Globalisierung setzen, statt das
Gegenteil.
Mit Corona kam jetzt der nächste extreme Einbruch, von
dem noch unklar ist, welche Märkte sich wann erholen
werden, aber auch, wie die globale Pandemie das Denken
verändern kann oder wird.
Martin Luther King hielt am 18. März 1968, kurz vor seiner
Ermordung, eine Rede in Memphis vor streikenden Müllleuten.
Er sagte, dass die Person, die unseren Müll aufnimmt,
letztendlich genauso wichtig ist wie der Arzt. Denn wenn er
seinen Job nicht macht, verbreiten sich Krankheiten. Kann
die ökonomische Folge und ihre moralische Ursache aktueller
zusammengefasst werden?
Corona hat nicht nur die Bedeutung von systemrelevanten
Berufen buchstäblich vom Kopf auf die Füße gestellt.
Es liefert auch die Matrix für ein neues politisches
Paradigma: Weil eine gemeinsam durchgestande Ausnahmesituation
zeigt, dass wir es gemeinsam besser können,
gemeinsam schaffen können. Weil wir wissen, dass eine
bestandene Gefahr Gemeinschaft schafft. Das wäre dann
die Grundlage für einen anderen Kapitalismus, vielleicht
für etwas ganz anderes, das heute noch keinen Namen
hat. Eine Geschichte, die noch nicht geschrieben ist. Aber
ist es nicht das, was wir eigentlich alle einmal erleben
wollen? Teil einer Geschichte zu sein, die wir selbst
schreiben?
An dieser Geschichte mitzuschreiben, dafür bin ich 2018
nach Berlin gegangen. Jetzt führt mich dieser Weg zurück –
zu Euch, zu uns. Drei Wahlkämpfe habe ich in verschiedenen
Konstellationen für Euch auf Landesebene mit anführen
dürfen. Jetzt bewerbe ich mich darum, das gleiche für
die Bundestagswahl tun zu dürfen. Dass Konstantin mir
ungefragt angetragen hast, dass ich auf Listenplatz 2
kandidiere, spricht für ihn und seinen Teamgeist. Und es
zeigt, welcher Geist diesen Landesverband prägt.
Wir stehen vor einer Bundestagswahl, wie sie Deutschland
nach dem Ende des zweiten Weltkriegs noch nicht hatte.
Erstmals tritt keine amtierende Bundeskanzler*in an. Das
verändert die ganze Auseinandersetzung. „Keine Experimente“
und „sie kennen mich“, also die Sprüche der Status
quo Bewahrung sind sinnlos für die Regierung, weil der
Status quo vergangen ist. Umgekehrt kann die Opposition
sich nicht auf „xyz muss weg“-Rhetorik zurückziehen. Alle
müssen aus sich heraus, aus eigener Kraft und eigener
Überzeugung überzeugen. Das ist für uns als Partei eine
Chance. Ja, fast scheint es, als hätten wir uns auf diese
Situation seit jenem Parteitag in Neumünster, 2005, vorbereitet.
Wir kämpfen 2021 darum, Deutschland politisch
anzuführen. Gemeinsam mit Euch und an der Spitze der
Landesliste Schleswig-Holstein will ich diesen Kampf
führen und bitte um Euer Vertrauen dafür.
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